Dieser Text erschien im August 2020 in der Aargauer Zeitung.

Bilder: Dominic Wenger

Burgenwanderung im Elsass, Kreuzfahrt im Mittelmeer, Weintour im Piemont – klassische Seniorenreisen sind nichts für Roland, Peter und Martin. Die drei Männer haben sich für eine weniger populäre Richtung entschieden: den Osten. Mehrmals jährlich fahren sie mit drei Transportern inkl. Anhängern nach Rumänien, um dort Hilfsgüter an die Ärmsten im Land zu verteilen. 
Die soziale Lage der rumänischen Bevölkerung ist auch 30 Jahre nach dem Sturz Ceaușescus und 13 Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union noch immer besorgniserregend. Rund ein Viertel der Einwohner gilt als armutsgefährdet. Davon besonders betroffen ist die ländliche Bevölkerung sowie Kinder und ältere Menschen. Sozial- und Versicherungsleistungen reichen nirgends hin. Selbstversorgung bildet für viele Familien die einzige Überlebensgrundlage. Zudem hat Rumänien seit der Wende über zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren. Darunter befinden sich viele gut ausgebildete Arbeitskräfte wie Lehrer, Wissenschaftler und medizinisches Personal. Diese Abwanderung wirkt sich zusätzlich negativ auf das Sozialsystem und die Wirtschaft aus.
Vielen Rumänen mangelt es grundsätzlich an allem. Neben Kleidern, Schuhen und Nahrungsmitteln bringen die drei Schweizer den Menschen manchmal jedoch auch besondere Güter wie zum Beispiel Musikinstrumente mit. In Prelipca, einer kleinen Ortschaft im Nordosten Rumäniens, hat Peter (78) vor rund 20 Jahren eine Dorfmusik gegründet. Jedes Jahr brachte er weitere Instrumente mit – Querflöten, Klarinetten, Trompeten – und stellte einen Musiklehrer an, der die Gruppe zusammenhielt. Heute zählt das Ensemble rund 30 Mitglieder.​​​​​​​​​​​​​​
Aber auch individuelle Wünsche werden zuweilen erfüllt. «In der Kleinstadt Jibou besuchte ich einmal eine bedürftige Familie mit einem seit Geburt gehunfähigen Mädchen», erzählt Peter. «Auf meine Frage, ob ich ihm eine Freude machen könne, sagte es: Ja, es möchte gerne ein Velo haben.» Erstaunt habe er angemerkt, dass es dieses wohl nicht gebrauchen könne, worauf das Mädchen erwidert habe, dass das Fahrrad ein Geschenk für seine grosse Schwester sein solle. Es sind Momente wie diese, die den Männern die Kraft geben, immer wieder aufs Neue ihre Fahrzeuge zu beladen, um von ihrem trauten Heim im Aargau in Richtung Rumänien aufzubrechen.
Ein gutes Herz allein reicht nicht aus, um dieses Engagement so lange aufrecht zu erhalten. Für die vielen Spender, die ihnen regelmässig gut erhaltene Hilfsgüter anliefern, sind die drei Männer sehr dankbar. Die Gemeinde Dürrenäsch stellt ihnen für die Zwischenlagerung der Ware sogar einen Raum zur Verfügung. «Was viele jedoch vergessen, ist, dass da noch die Transportkosten dazukommen», sagt Roland. Die Kosten für Fahrzeuge und Anhänger, Benzin und Übernachtungen. «Das bezahlen wir aus dem eigenen Sack», sagt der 78-Jährige, «das sind sozusagen unsere Ferien.»
Der gelernte Elektromonteur arbeitete viele Jahre als technischer Berater für Schmierstoffe: Fette und Öle für Industriemaschinen. Mit Schmieren kennt er sich also aus – und weiss auch davon abzusehen, wenn es die Umstände bedingen. Roland erinnert sich an die Zeit vor der EU-Osterweiterung, als an den Grenzen ein Durchkommen noch unsicherer war. «Da wurde am Zoll oft ein Schmiergeld verlangt», erzählt er, «da haben wir natürlich immer versucht, zu verhindern, dass diese Leute sich privat bereichern.» ​​​​​​​
Die Fahrt nach Rumänien führt über Deutschland, Österreich, Ungarn und – je nach Route – auch über die Slowakei. Das Hauptziel ihrer Hilfstransporte ist stets Rumänien, Nebenziele sind Ostungarn sowie die Südslowakei. Auf ihrer Reise begegnen die drei nicht nur dem Elend. Zwischendurch finden sie auch Zeit und Musse, die Schönheiten Rumäniens zu geniessen: die herrschaftlichen Gebäude, mystischen Landschaften und prächtig bemalten Moldauklöster.
«Erste Kontakte knüpfte ich nach der Wende», erzählt Peter. Zu dieser Zeit lernte er die Sorgen und Nöte osteuropäischer Einwanderer in der Schweiz kennen. «Diese Begegnungen haben mich beeindruckt und waren mit ein Auslöser, dass ich mich dazu entschlossen habe, regelmässig nach Rumänien zu fahren, um da zu helfen», sagt er. Zu Beginn unterstützte Peter zwei rumänische Bauernfamilien mit der Lieferung landwirtschaftlicher Maschinen. Dann kamen immer mehr Projekte dazu. Ein kleines, privates Krankenhaus zum Beispiel, das ein rumänischer Arzt aus eigener Kraft aufgebaut hatte. Hier half Peter mit Betten, Sterilisationsapparaten und zwei Ambulanzen. 

«Auf so einer Reise ist man auf Leben und Tod miteinander verbunden.»

«Peters Stärke ist das Organisieren und Suchen nach neuen Projekten», sagt Roland über seinen Freund, mit dem er sich um die Jahrtausendwende herum zusammengeschlossen hat. Peter verfügt über viele Kontakte und spricht sogar einen Brocken rumänisch. Roland wiederum sei für das Praktische zuständig, erklärt Peter. «Wenn wir einen platten Reifen haben, kann er das beheben. Wenn bei einer Familie der Kühlschrank repariert werden muss, ist er der ideale Mann dafür.» Martin, der Dritte im Bunde, ist vor Kurzem verstorben. Er sei der Grosszügigste der drei gewesen, die gute Seele im Team, so Roland. Ein Freund, auf den man sich immer habe verlassen können. 
So hatten die drei Männer allesamt ihre Rolle innerhalb der Gruppe und ergänzten sich ideal. «Wir waren drei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten», sagt Roland. Reibereien habe es dennoch kaum je gegeben. «Du kannst es dir nicht leisten, deine Kräfte mit Streitigkeiten zu vergeuden», sagt Peter. Auf einer solchen Reise sei man auf Leben und Tod miteinander verbunden. Ein gemeinsames Ziel sei unabdingbar. Bedürfnisse der einzelnen würden laufend abgesprochen und respektiert. «Es ist wichtig, dass man sich untereinander gut verträgt», sagt er. «Wir sind ein gutes Team», bestätigt Roland, «wir gehen aufeinander ein und lösen Probleme gemeinsam.» ​​​​​​​
Von ihrem Engagement abbringen lassen sich Peter und Roland durch nichts und niemanden. Auch wenn sie das eine oder andere Mal in eine brenzlige Situation geraten sind. Peter erinnert sich, wie sie einst mit einem Lastwagen in ein Roma-Dorf im Nordosten Rumäniens gefahren sind. Da hätten sie von einem Moment auf den anderen rund 300 Leute umringt und damit begonnen, sich von der Ware im LKW zu bedienen. «Das war schon sehr dramatisch.» Heute passiere so etwas aber nicht mehr, meint er. Man lerne ja auch dazu. «Wir haben uns in der Folge besser organisiert, um solch unkoordinierte Begegnungen zu vermeiden.» Früher habe man eher mal noch improvisiert und zwischendurch spontan ein neues Dorf beliefert. «Heute besuchen wir praktisch ausschliesslich Ortschaften, in denen wir die Leute schon kennen und sie auch uns.» Die Reisen würden mittlerweile sehr genau geplant. Das beginne bereits beim Beladen der Fahrzeuge und Anhänger. «Da musst du schon wissen, wo es hingeht. Was du ganz am Anfang und was ganz am Schluss abladen willst», erklärt Roland. Beim letzten Mal zum Beispiel hätte man rund 50 Stationen angefahren. 

«Ein Bekannter aus meinem Umfeld warf mir vor: Jetzt helft ihr denen auch noch!»
Abhalten von ihrem barmherzigen Tun lassen sie sich aber auch nicht durch die teilweise kritischen Stimmen aus der Schweiz. «Der Osten hat hierzulande halt ein schlechtes Image», sagt Roland. Dieses dürfte nicht zuletzt daher rühren, dass in den Medien immer wieder über osteuropäische Kriminaltouristen berichtet wird. «Ich hatte in meinem näheren Bekanntenkreis jemanden, der war gar nicht gut auf meine Rumänienhilfe zu sprechen», erzählt er. «Der warf mir vor: Jetzt helft ihr denen auch noch!» 
Die Coronakrise habe ihnen einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich hätten sie geplant, im April wieder zu fahren. Ausbremsen lassen wollen sich Roland und Peter aber auch von Covid-19 nicht. Aktuell sei es zwar unsicher, wie es weitergehe. Doch eines sei klar: «Sobald es die Situation zulässt, werden wir wieder fahren.» 
Alles ist bereit für die nächste Fuhre. Die grosse Lücke, die Martin hinterlassen hat, wurde gleich mit zwei neuen Compagnons geschlossen. Rund drei Tonnen Hilfsgüter warten im Schutzraum darauf, verfrachtet und verteilt zu werden. Zum Wohle nicht nur der Empfänger, wie es scheint, sondern auch der Überbringer. Oder wie es Peter ausdrückt: «Die Freude in den Augen der Kinder gibt uns viel mehr, als wir ihnen jemals bringen können.»​​​​​​​

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