Kurzgeschichte anlässlich meiner Lesung am Buch- und Literaturfestival «Zürich liest» im Oktober 2021.
Die Sonnenstrahlen kippten langsam über die Mauer der Anlage, wärmten die Wände der altholzigen Umkleidekabinen und trockneten den Tau auf der Liegewiese. Albert wurde flau im Magen.
In einer Stunde würden die Tore des Freibads öffnen. Zeit, das Areal zu begehen. Geländer zu kontrollieren. Beckenleitern zu prüfen. Albert investierte viel in die Sicherheit. Tat alles, um zu verhindern, was nicht zu verhindern war. 
Von der Poolbar her war das Geräusch der elektrischen Kaffeemühle zu hören. Dampfender Espresso für die frühen Gäste tröpfelte aus dem Siebträger. Albert lief es kalt den Rücken hinunter. Viel lieber hätte er Barista Rudi bei der Zubereitung der Kaffees assistiert, als seiner Tätigkeit als Leiter des Badebetriebs nachzugehen. Rudi hatte schon einmal angeboten, ihn zum Barista auszubilden.
Immerhin lag die Anspannung vormittags auf einem erträglichen Niveau. Fanden sich zu dieser Tageszeit doch vornehmlich gute Schwimmer ein. Und die weniger erfahrenen waren Schüler, auf die eine Schwimmlehrerin achtgab.
Als sich gegen Mittag der Geruch von Frittieröl über die Anlage legte, steigerte sich Alberts Unbehagen weiter. Es war das Zeichen, dass die Zahl der Gäste zunahm. Und mit ihr der Anteil an tollkühnen Knaben, überforderten Eltern und beschwipsten Studenten.
Albert nahm seine Position im Bademeisterstand ein. Ob der guten Sicht wurde ihm gleich noch ein bisschen mulmiger. Denn von hier aus überblickte er praktisch jeden Bereich der Anlage. Gab es keine Möglichkeit mehr, sich der Verantwortung zu entziehen. Würde er jede Gefahr innert Sekunden erspähen können und sofort reagieren müssen. 
Nur das Kleinkinderbecken hatte er nicht vollständig im Blick. Gott sei Dank. Denn der architektonische Mangel rechtfertigte die Anstellung eines Assistenzbademeisters. Dessen Verpflichtung war der erste Entscheid, den Albert ohne Einbezug seines Vaters gefällt hatte. Wohlweislich. Papa hätte garantiert dagegen votiert. Für ihn bestand die Aufgabe eines Bademeisters nicht darin, ständig auf das Wasser hinaus zu starren und alle möglichen Gefahrensituationen im Sichtfeld zu haben. «Erreichbarkeit, Albert, Erreichbarkeit», predigte er immerzu. 
Albert wagte es sogar vorzuschlagen, den Assistenten auf den Hauptsitz zu beordern, um seinerseits die Überwachung des Familienbereichs übernehmen zu können. Das kniehohe Wasser des Planschbeckens wäre für ihn machbar gewesen. In diesem Fall jedoch schritt Papa ein, dem noch immer eine beratende Funktion oblag. «Wir sind Bademeister, Albert, keine Kindergärtner.»
Albert sass auf seinem Hochstuhl und markierte den Chef, der er nicht war. Er liess seinen Blick suchend über die funkelnde Wasseroberfläche gleiten.


Seit einer Weile stand dieser Junge nun schon am Beckenrand. Mit hängenden Armen und weichen Knien. Die Zehen verkrampft über die Kante gebogen. Seinen Blick richtete er durch die zwei Meter Wasser bis ganz nach unten zu den Fliesen. Da, wo sich die geraden Bahnlinien bedrohlich zu schwarzen Schlangen bogen. Albert erfasste die Situation sofort. Diese Anzeichen, er kannte sie nur zu gut von sich selbst. Benommenheit. Schwindel. Angst.
Albert drückte auf den Knopf seines Megafons. Das laute Pfeifen der Rückkopplung schreckte die Badegäste auf. Alle – ausser den jungen Mann am Beckenrand.
«Junge, alles gut bei dir?», knackte es aus dem Trichter. 
Das Klatschen des dürren Knabenkörpers auf der Oberfläche des Schwimmbeckens liess Albert hochschnellen. Er rannte los, sprang ins Wasser und tauchte nach dem Jungen. Per Achselgriff zog er den Bewusstlosen scheinbar gekonnt an die Oberfläche. Dann liess er los. Schlug wild um sich. Der Rettende wurde zum Ertrinkenden. 
Die Schreie der Anwesenden zogen den Assistenzbademeister zum Hauptbecken. Mit einem steilen Kopfsprung rettete er den bewegungslos am Grund des Beckens treibenden Jungen. Dann barg er seinen panischen Kollegen.
Zitternd und hektisch atmend sass Albert auf den Betonplatten, sah noch, wie der Junge neben ihm in Seitenlage gebracht wurde. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. 


Albert öffnete seine Augen. Er erkannte sie sofort wieder, die Notaufnahme des Kantonsspitals. Hier lag er schon einmal. Am Tag seines Versagens bei der Abschlussprüfung zum Bademeisterbrevet, das er eine Woche darauf im Rahmen einer zweiten Chance und unter Einnahme zweier Benzodiazepine doch noch erlangte.
Albert griff nach seinem Telefon auf dem kleinen Tisch neben ihm und wählte Rudis Nummer.

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